Das Zahlenchaos im politischen Krisenmanagement in der „Corona-Pandemie“ (Wort des Jahres 2020) ist die Grundlage für die Maßnahmen der Gefahrenabwehr. Der „Lockdown“ (Vize-Wort des Jahres 2020) im Frühjahr und der Teil-Lockdown im Herbst 2020 sind ihm ebenso geschuldet wie die Beherbergungsverbote und Kontaktsperren. Die Kompetenz zur Bekämpfung der Corona-Pandemie weist das Grundgesetz den Ländern und dem Bund zu. Deshalb reden zu viele Leute bei der Verabschiedung der Maßnahmen mit, die mangels Verständnisses das Zahlenchaos im politischen Management verursachen.
Ablauf des Zahlenchaos im politischen Krisenmanagement
Das Zahlenchaos im politischen Krisenmanagement ist ein Ereignis, das durch die unsachgemäße Verbindung verschiedener Zahlen mit unterschiedlicher Qualität abläuft. Die aus dem Zahlenchaos gezogenen Schlüsse verursachen das Durcheinander in der Abwehr der Corona-Pandemie.
Die Qualität der Zahlen zur Infektion
Die Zahlen der Infektionen pro Tag werden nach Angaben des Robert-Koch-Instituts veröffentlicht. Die dort gemeldeten Zahlen sind an Wochenenden geringer, weil teilweise zur Abgabe der Zahlen verpflichtete Gesundheitsämter geschlossen sind und deshalb keine Zahlen melden.
Für die Abgabe der Zahlen hängen die Gesundheitsämter von den Informationen der Labore ab, die für ihre Meldungen 42 Stunden Zeit haben. Diese Spanne wird häufig überschritten, wenn die Labore überlastet sind.
So behindern allein die recht unsichere 42-Stunden-Regel und die Wochenendschließung von Gesundheitsämtern die tagesgenaue Feststellung der Infektionen. Übertragungsfehler und menschliches Versagen sorgen für zusätzliche Unsicherheiten. Die Qualität der Zahlen zur Infektion ist damit alles andere als solide, sondern vielmehr ein Zahlenchaos.
Fallzahlen der Infizierten
Die Fallzahl der Infizierten insgesamt hat inzwischen die Millionengrenze überschritten.
Die täglichen Fallzahlen schwanken seit Beginn des Teil-Lockdowns im November 2020 wöchentlich in einer Spreizung zwischen 13.000 und 23.000. Sie werden in der Berichterstattung der ARD in Säulen dargestellt.
Die kleinsten Säulen stehen für Sonntag und Montag, weil die Wochenend-Infektionen noch nicht gemeldet sind. Die Säulen von Dienstag und Mittwoch Tage sind bereits höher, weil sie auch die Nachmeldungen vom Wochenende enthalten. Donnerstag bis Samstag entsprechen die Fallzahlen den Meldungen nach der 42-Stunden-Regel. Verglichen werden in den Grafiken der ARD aber nur die täglichen Fallzahlen mit demselben Tag der Vorwoche.
Fallzahlen der Todesfälle
Die Fallzahlen der Todesfälle seit Beginn der Corona-Pandemie liegen bei 16.800 und entsprechen einer Fallsterblichkeit von 1,66 Prozent (Stand 01.12.20). Ihr Anstieg im Herbst folgt der saisonalen Sterblichkeit bei Grippe.
Reproduktionswert
Der Reproduktionswert (R-Wert) für die Corona-Pandemie gibt an, wie viele Personen ein Infizierter mit dem Corona-Virus ansteckt. Die Zahl wird vom RKI für einen Wochendurchschnitt ermittelt. Vor dem Lockdown war die Zahl 3; seit November liegt sie unter 1, aktuell bei 0,91 (01.12.20).
7-Tage-Inzidenz
Mit der 7-Tage-Inzidenz ist die Kennzahl pro 100.000 Einwohner gemeint, mit der die Länder und der Bund Regionen als durch die Corona-Pandemie gefährdet ansehen.
In der Diskussion befanden sich die Zahlen 35 und 80. Sie wurde als Kompromiss auf 50 festgelegt. Nachdem die tatsächlichen Zahlen zwischenzeitlich in einigen Regionen 200 überschritten hatten, sind sie auf dem Rückzug. In einigen Ländern sind sie wieder zweistellig, im Norden sogar unter 50 (03.12.20).
Dunkelziffer der Infektionen
Die Dunkelziffer der Infektionen wurde zu Beginn der Corona-Pandemie mit zehn Prozent der Infizierten angegeben.
Dabei handelt es sich um Leute, die ansteckend sind, ohne es selbst zu wissen. Sie haben entweder keine oder atypische Symptome. Inzwischen liegt die Schätzung bei 100.000 infizierten Personen (03.12.20). Sie beruht auf einer mathematischen Annahme über die Dynamik der Ausbreitung des Virus.
Belegung der Intensivbetten
Im März 2020 wurde beschlossen, die Kliniken sollten 50 Prozent ihrer Intensivbetten für Corona-Infizierte freihalten. Nicht notwendige Operationen wurden verschoben.
Im September 2020 wurde wegen der niedrigen Fallzahlen wieder mehr operiert, und es wurden weniger Intensivbetten freigehalten.
Anfang Dezember 2020 belief sich der Stand auf insgesamt 27.533 Intensivbetten, davon belegt 21.628. Davon waren 3.926 Corona-Intensivbelegungen. Die freie Kapazität betrug 5.905 Intensivbetten. Außerdem können noch 12.000 Notbetten aktiviert werden.
Beurteilung des Zahlenchaos im politischen Krisenmanagement
Wie das Zahlenchaos im politischen Krisenmanagement die Entscheidungen zu den Abwehrmaßnahmen in der Corona-Pandemie beeinflusst, wird durch die Beurteilung des Zahlenchaos deutlich.
Die Infektionszahlen
Die Zahlen zur Infektion werden nur kumulativ dargestellt; auf die Übermittlung von (Abwärts-)Kurven wird verzichtet.
Es fehlen:
- konkrete oder prozentuale Angaben zu den Anteilen der am Corona-Virus Infizierten an den Gesamt-Zahlen
- Aussagen zu den näheren Umständen der Erkrankungen
- Aussagen zu den regionalen Vorkommen.
Stattdessen wird auf Corona-Landkarten verwiesen.
Für das Zahlenchaos im politischen Krisenmanagement sorgt vor allem die negative Validität der Erhebung der Zahlen, sie lässt keine verlässliche Zuordnung zu.
Exponentielles Wachstum
Das exponentielle Wachstum der Infektionszahlen wird gern von Politikern, Experten oder der Presse zur Beschreibung der Corona-Pandemie bemüht.
Infektionszahlen
Die Voraussagen des RKI am 17.03.20 zu den Infektionszahlen nannten 10 Mio. in ein bis zwei Monaten. Bis Dezember 2020, also neun Monate später, betrug die tatsächliche Zahl der an Corona Infizierten in Deutschland 1.160.000.
Infektionstote
Die Voraussagen zu den Infektionstoten waren unterschiedlich:
- Ein Virologe hatte exponentiell bis spätestens Juli 2020 ungefähr 325.000 Infektionstote befürchtet.
- Ein anderer war nach eigener Rechnung auf nur 60.000 gekommen.
- „Wenn wir Wissenschaftler nicht die Politik informiert hätten“, sagte Christian Dorsten, Chef des Instituts für Virologie an der Berliner Charité, im Mai 2020, „ich glaube, wir hätten in Deutschland jetzt 50.000 bis 100.000 Tote mehr.“ (DER SPIEGEL Nr. 50 / 05.12.2020, Seite 101).
Ende November war die tatsächliche Zahl der Corona-Toten in Deutschland 16.800. Im selben Monat wurden 400 Infektionstote an einem Tag als Basis zur Berechnung des exponentiellen Wachstums vorgeschlagen.
Basis für ein exponentielles Wachstums
Umstritten ist, ob es bisher überhaupt ein exponentielles Wachstum gegeben hat.
Die Befürworter meinen, dass eine mehrere Tage hintereinander verlaufende Verdoppelung die Basis für eine exponentielles Wachstum sein kann; allerdings findet dieses mathematische Modell in der Natur seine Grenzen. Verdoppelungen kommen vielleicht drei Tage hintereinander vor. Deshalb kann nur ein Zeitfenster exponentiell beschrieben werden.
Wenn zu viele Meldungen bei den Gesundheitsämtern eingehen, kann das Wachstum der Infektionszahlen schneller als exponentiell steigen.
Ein solcher Fall ist die nur wöchentliche Meldung des UKE an die Hamburger Gesundheitsbehörde. Um die dadurch provozierte Überexponentialität zu vermeiden, verteilt das RKI die Zahlen aus solchen Meldungen auf einen gedachten Zeitraum.
Schlussfolgerung: Die Corona-Pandemie, ein Naturereignis, kann mathematisch exponentiell nicht beschrieben werden.
Chaos der Indikatoren
Das Zahlenchaos im politischen Krisenmanagement entsteht durch den ständigen Wechsel der Indikatoren, die für die Vorhersage der Corona-Pandemie bemüht werden.
Dahinter stehen politische Interessen. Die einen befürworten strengere flächendeckende Abwehrmaßnahmen gegen die Corona-Pandemie über die ganze Bundesrepublik; andere, die von der Corona-Pandemie weniger betroffen sind, sind an Lockerungen interessiert.
Die Fallzahlen der Infizierten als Indikatoren für das Wachstum der Corona-Pandemie waren solange willkommen, wie sie stiegen. Danach mussten sie schnell dem R-Wert weichen, als er die Zahl 1 überschritten hatte. Doch ab November 2020 sank der R-Wert ständig, so dass die auf über 20.000 gestiegenen Fallzahlen als Indikatoren zu Ehren kamen. Doch auch sie stagnieren seit einigen Wochen. R-Wert und Fallzahlen sind seither als Indikatoren nicht mehr willkommen.
Der Versuch, die Infektionstoten zum Indikator zu machen, scheiterte an ihrer mangelhaften Validität. Die Zahlen des RKI enthalten sowohl die am Corona-Virus Verstorbenen als auch die Toten, die mit Corona gestorben sind. Eine Trennung wird nicht ausgewiesen.
Die Dunkelziffer der Infektionen taugt ebenfalls nicht als Indikator. Durch die deutlich angestiegenen Testungen ist zwar die Zahl der Infizierten angestiegen; aber die Dunkelziffer hat gleichzeitig abgenommen. Die erhöhte Zahl der Infektionen beschreibt nicht nur die Zunahmen von Erkrankungen. Sie vollzieht auch den Wechsel von unbekannten Infektionen zu bekannt gewordenen Infektionen nach.
Die Zahl der Intensivbetten ist als Indikator ebenfalls ungeeignet; denn die Zahl der noch freien Betten beträgt Anfang Dezember 2020 einschließlich Notbetten fast 18.000. Zumal die Summe der Corona-Infizierten auf den Intensivstationen nur 18 Prozent aller Intensivpatienten beträgt. Einschränkend und daher verwirrend kommt die unbeantwortete Frage hinzu, ob für alle Betten auch das erforderliche Pflegepersonal zur Verfügung steht.
Quintessenz aus dem Zahlenchaos im politischen Krisenmanagement
Das Zahlenchaos im politischen Krisenmanagement basiert auf Zahlen, die vollkommen ungesichert sind. Sie lassen sich weder genau ihrem zeitlichen oder regionalen Entstehen zuordnen, noch geben sie Auskunft über das Alter oder die Vorerkrankungen der Infizierten. Bei den Toten ist nicht klar, ob sie an oder nur mit dem Corona-Virus verstorben sind.
Die Prognose eines exponentiellen Wachstums der Infektionszahlen ist allenfalls für ein Zeitfenster berechenbar. Oft ist es aber durch kumulative Meldungen der Gesundheitsämter selbst gemacht.
Zahlen zu Infektionsfällen, Todesraten, R-Werten, 7-Tage-Inzidenz, Dunkelziffern und Intensivbetten sind ebenfalls für Prognosen ungeeignet. Da sie trotzdem angewandt werden, entsteht das Zahlenchaos im politischen Krisenmanagement. Es behindert nicht nur die notwendigen Abwehrmaßnahmen gegen die Corona-Pandemie, sondern beschädigt auch das Vertrauen des Volkes in die Regierenden.
Statt das Zahlenchaos im politischen Krisenmanagement zu unterstützen, müssen die Verantwortlichen endlich eine Strategie zur Abwehr der Corona-Pandemie beschließen. Die letzten Maßnahmen vom November haben nicht viel mehr als einen Stillstand beim Wachstum der Infektionszahlen bewirkt. Damit kann man die deutsche Wirtschaft auf Dauer nicht retten. Beendigung des Teil-Lockdowns, Aufhebung der Kontaktbeschränkungen und Eindämmung des Coronavirus sollten die Ziele sein. Das Lavieren mit Verboten und deren Verschärfungen muss ein Ende haben.
1 Comment
Aus NRW · 8. Dezember 2020 at 22:29
Sehr geehrter Dr. Kettembeil,
danke, dass Sie sich dieses Themas annehmen. Es aber nicht nur das Zahlenchaos was einen entsetzt. Bei derzeit über 400 Toten täglich, stellt sich die Frage, wussten es die Verantwortlichen wirklich nicht besser?
Das eine II. Corna-Welle im Herbst/Winter kommt, war bekannt.
Alle einschlägigen Experten, die Bundeskanzlerin, Karl Lauterbach und viel mehr warnten rechtzeitig davor.
Was hat der „Lockdown light“ gebracht?
Er gilt seit dem 03. November 2020 gekoppelt zunächst mit dem Versprechen: „Halten Sie sich jetzt an die Regeln, dann können Sie Weihnachten richtig feiern.“ Heute wissen wir, dass die den Bürgern zunächst versprochenen Erleichterungen zu Weihnachten und an Sylvester mutmaßlich eine Illusion sind.
Warum das alles?
Deutschland ist föderalistisch geprägt. Gesundheitsschutz ist Ländersache. Die Damen und Herren Ministerpräsidenten haben aber ihre höchst persönlichen Interessen. Etliche in dieser Runde haben Angst vor harten Einschnitten. Die Motive sind dabei höchst unterschiedlich. Sie reichen von Angst vor „AfD“ und sog. „Querdenkern“ und gehen bis zu eigenen bundespolitischen Ambitionen. Hätte man vor Wochen auf Angela Merkel, die Leopoldina und zahlreiche Virologen gehört, ständen wir aktuell dramatisch besser da.
Wie sinnvoll ist Bazooka-Politik?
Rund 180 Milliarden Euro Neuverschuldung sind in 2021 im Bundeshaushalt eingeplant. Best Case wird dies am Ende Corona den Steuerzahler am Ende 360 Milliarden Euro kosten. Nicht alles was veranstaltet wird, verdient das Prädikat sinnvoll. So mutiert der Umsatzersatz für die Gastronomie zum besten Geschäft aller Zeiten für einige Fast-Food-Ketten, die nicht einmal in Deutschland Steuern zahlen. Schlupflöcher gibt es auch beim Kurzarbeitergeld. Spitzfindige Gewinnler nutzen teils das System gnadenlos aus. Ärgerlich: Andere erreicht die versprochene Hilfe erst gar nicht bzw. nicht rechtzeitig. Hier gibt es ebenfalls eine Menge zu optimieren.
Bezahlen müssen auch dieses Debakel am Ende alle. Mancher holt schon Ideen wie eine Reichen- oder Vermögenssteuer aus der Mottenkiste.
Deutschland das Land der Ideen?
Eine einheitliche Software für die deutschen Gesundheitsämter gibt es nicht. Viele Ämter befinden sich noch in der digitalen Steinzeit. Oft ist das Fax das Standard-Kommunikationsmittel. Ein Exportschlager des RKI ist u.a. eine Software für Gesundheitsämter. Sie u.a. in III.-Welt-Länder exportiert. Hätte man sich da nicht in Erwartung einer zweiten Welle besser vorbereiten können.
Nach der ersten Corona-Welle galt Deutschland in Europa als Vorbild. Wird das nach der zweiten auch noch so sein?
Politiker können nicht immer Everybody’s Darling sein. Das wissen auch die Wähler. Party People, Maskenverweigerer, Verschwörungstheoretiker etc. sind nicht die Mehrheit in unserem Land sind. Wer auf diese Minderheiten setzt, ist Superwahl 2021 garantiert einer der Verlierer.
Bleibt zu hoffen, dass man das Thema „Impfen“ besser in den Griff bekommt.
Herzliche Grüße